29. AUGUST 2011

Leipzig und Halberstadt sind Bahnhöfe des Jahres

Berlin. Rund 2.000 Einsender aus ganz Deutschland haben ihre Lieblingsbahnhöfe nominiert, die Jury hat ihre Testreisen Mehr...unternommen und das Urteil ist gefallen: Leipzig und Halberstadt gewinnen den Titel „Bahnhof des Jahres 2011“. Zum achten Mal in Folge zeichnet die Allianz pro Schiene die kundenfreundlichsten Bahnhöfe Deutschlands aus. Bei der offiziellen Verkündung der Sieger wurde auch die Arbeit der Bahnhofsmission in Deutschland ausdrücklich gewürdigt.

In der Kategorie „Großstadtbahnhof“ gewann der Leipziger Hauptbahnhof, der die Jury als erster Kopfbahnhof in der Wettbewerbs-Geschichte mit „unglaublich viel Platz für die Reisenden“ überzeugte. In der Kategorie „Kleinstadtbahnhof“ gewann Halberstadt, das seit dem gelungenen Umbau im Jahr 2010 – so das Urteil der Jury – „aus der Kellerliga auf das Siegertreppchen“ geklettert sei. „Abseits von der politischen Aufregung um Stuttgart wandelt sich in Deutschland gerade der Anspruch der Reisenden an ihren Bahnhof“, sagte Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene. „Bahnhöfe, die statt leerer Wartezeiten ein eigenes Erlebniszentrum schaffen, das Reisende und Besucher ganzheitlich anspricht, stehen in der Gunst der Menschen ganz weit oben.“

In ihrer Rede zur Preisverleihung widmete sich Jurymitglied Prof. Monika Ganseforth, Vorstandsmitglied des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), ausführlich der Rolle der Bahnhofsmissionen:

Mit der heutigen Auszeichnung der „Bahnhöfe des Jahres“ würdigen wir auch die wichtige Arbeit der 101 Bahnhofsmissionen in Deutschland, insbesondere die Arbeit der Bahnhofsmissionen im Leipziger Hauptbahnhof und im Halberstädter Bahnhof. Denn mit ihrem Engagement haben die Mitarbeiter dazu beigetragen, dass Leipzig und Halberstadt in diesem Jahr die Titel der kundenfreundlichsten Bahnhöfe Deutschlandes tragen.

Für Menschen in kritischen Situationen sind die Bahnhofsmissionen der Evangelischen und Katholischen Kirche Orte der Hilfe und des Schutzes. „Wir haben offene Türen und Ohren – auch nachts“,  so beschreiben sie ihr Angebot. Jeder ist willkommen – unabhängig von persönlichen Voraussetzungen oder freien Kapazitäten. Und jeder wird unterstützt, sofort und ohne Erwartung einer Gegenleistung.

Die Gründung der Bahnhofsmissionen geht auf die Landflucht im ausgehenden 19. Jahrhundert zurück. Vor allem junge Leute vom Land suchten ihr Glück in der Stadt. Nicht selten endeten sie in Wohnungslosigkeit und manch junge Frau in der Prostitution. Um diese Neuankömmlinge direkt am Bahnhof beraten und auffangen zu können, schlossen sich meist Frauen – anfangs getrennt nach Konfession – zusammen. So entstand die erste Bahnhofsmission im Jahr 1894, hier am Berliner Bahnhof Zoo.

Während des 1. Weltkriegs versorgten die Ehrenamtlichen Verwundete und Flüchtlinge. Später, in den 30er Jahren, betreuten sie oft allein reisende Kinder und Landhelfer, bis der Nationalsozialismus sie mehr und mehr verdrängte. In der Nachkriegszeit öffneten sie ihre Tore wieder, um Kriegsgeschädigten und Heimkehrern zu helfen.

Ab den 60er Jahren betreuten die Bahnhofsmissionen in Westdeutschland vor allem einreisende DDR-Rentnerinnen und Rentner und ausländische Arbeitskräfte. Die ostdeutschen Einrichtungen wurden Mitte der 50er Jahre von den Behörden verboten. Erst 93 konnte beispielsweise die engagierte Truppe des hier prämierten Leipziger Hauptbahnhofs ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Inzwischen liegt der Tätigkeitsschwerpunkt in der Betreuung mobilitätseingeschränkter Menschen. Oder wie die Leipziger sagen: Sie arbeiten „oben“, direkt am Bahnsteig. Das bedeutet: Zwei hauptamtliche und rund 30 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer in Leipzig unterstützen vor allem Reisende mit Handicap oder ältere Menschen beim Ein- und Aussteigen direkt am Bahnsteig. Auch die Betreuung allein reisender Kinder im Rahmen des Serviceangebots „Kids on Tour“ wird immer stärker nachgefragt. Und schließlich bietet die Bahnhofsmission im neuesten Projekt eine mobile Reisebegleitung im Regionalverkehr an, zum Beispiel für verwirrte Ältere. Nur rund ein Viertel der Arbeit macht heute die Betreuung von Wohnungslosen oder Suchtkranken in den Räumlichkeiten der Bahnhofsmission aus.

Das gilt auch für den Kleinstadtbahnhof Halberstadt. Die dortige Bahnhofsmission ist ganz jung, erst vor zwei Jahren wurde sie gegründet. Initiiert durch einzelne Stadtbewohner und umgesetzt durch das gemeinschaftliche Engagement von Bahnhofseigentümer, Stadt, Deutscher Bahn und dem hauptamtlichen Leiter der Bahnhofsmission. Die 20 Ehrenamtlichen haben ihre Hilfeleistungen inzwischen sogar auf die umliegenden Nachbarbahnhöfe ausgedehnt. Sie leisten umtriebige Öffentlichkeitsarbeit, organisieren Wandertage für Bedürftige oder übernehmen die Essensversorgung bei Festen.

Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle, was die Ehrenamtlichen in Leipzig, Halberstadt und in den anderen 99 Bahnhofsmissionen in Deutschland antreibt? Nun, ob Bankkauffrau oder Lehrerin, Meteorologe oder Pfarrer im Ruhestand: Sie alle engagieren sich aus Überzeugung. Und mit einer Begeisterung, die ansteckend wirkt.

Ihre Motive sind vielfältig: Sie möchten Menschen in Not helfen, sich für andere einsetzen. Doch die meisten Ehrenamtlichen tun das auch für sich selbst: Viele Rentnerinnen und Rentner sagten spontan, Sie würden gerne gebraucht. Berufstätige nutzen die Chance, ihre Fremdsprachenkenntnisse aufzupolieren. Ältere wollen beweglich bleiben, Jüngere eine Alternative zum grauen Berufsalltag schaffen. Sie alle schätzen ihren Bahnhof als Ort der Begegnung. Und ihre Bahnhofsmission als einen Ort der Freude, aber auch der Hilfe und des Schutzes. Genau wie vor 100 Jahren.

Abschließend möchte ich Ihnen die Aussage eines hauptamtlichen Mitarbeiters mit auf den Weg geben, der seinen Job in der Wirtschaft zugunsten der Bahnhofsmission aufgab. Er sagte: Zehn Jahre lang bin ich zum Zug gehetzt und habe gar nicht gesehen, wie viele Menschen Hilfe brauchen. Seit ich hier arbeite, habe ich das Gefühl zu leben.“ Seine Bitte an uns ist so einfach wie bestechend: „Gehen Sie mit offenen Augen durch den Bahnhof“.



 
Zurück zur Übersicht