8. DEZEMBER 2011

Jung und keine Perspektive

Die 20-Jährige Sabrina* hat ihre Berufsausbildung abgeschlossen, aber psychische Probleme haben sie aus der Bahn geworfen. Der 25-Jährige Adam* kam mit seinen Eltern aus Osteuropa und ist wegen Sprachproblemen am deutschen Schulsystem gescheitert. Die 17-Jährige Leila* Mehr... ist vor ihren strengen Eltern türkischer Herkunft geflohen. – Drei junge Menschen, die in der Bahnhofsmissionen Oldenburg Hilfe suchen. Drei von vielen.

„Immer mehr junge Gäste kommen zu uns in die Bahnhofsmission. Viele von ihnen sind obdachlos“, beschreibt Leiterin Doris Vogel-Grunwald eine bedrückende Erfahrung, die viele der 100 Bahnhofsmissionen in Deutschland machen. Aber warum ausgerechnet Oldenburg – eine Stadt, die wegen ihrer Wirtschaftskraft und Lebensqualität zu den Gewinnern im aktuellen Städte-Ranking des Wirtschaftsmagazins Capital gehört? Vogel-Grunwald erklärt, dass Arm und Reich in Oldenburg nah beieinander liegen, sich sogar gegenseitig bedingen: „Eine steigende Zahl solventer Mieter und Studenten strömt nach Oldenburg. Weil gleichzeitig über Jahre hinweg versäumt wurde, einen sozialverträglichen Wohnungsbau zu praktizieren, finden immer weniger Menschen mit geringem Einkommen eine Unterkunft.“

Mehr als ein Problem
Wenn junge Gäste wie Janina schüchtern bei der Bahnhofsmission um einen Kaffee bitten, haben sie meist einen steinigen Weg hinter sich und mehr als ein Problem im Gepäck. Janina leidet unter der Borderline-Störung. Ihre Beziehungen, ihre Stimmungen und ihr Selbstbild sind extrem instabil und ihre Gefühle fahren Achterbahn mit ihr, schwanken ständig zwischen starker Zu- und Abneigung. Stabilisierende Medikamente hat sie abgesetzt, stattdessen reguliert sie ihr Gefühlschaos mit großen Mengen von Wodka. Sie wohnt bei einem Mann, der unberechenbar ist, von dem sie aber finanziell abhängig ist. Dass Janina seit einiger Zeit täglich in die Bahnhofsmission kommt und den Kontakt nutzt, um über ihre Probleme zu reden, ist ein erster Erfolg.


„Immer mehr junge Menschen befinden sich auf dem Standstreifen des gesellschaftlichen Lebens": Pater Franz-Ulrich Otto, bis vor kurzem langjähriger Vorsitzender der Bundesar-beitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit, bestätigt die Erfahrungen der Bahnhofs-missionen. Er ist überzeugt, dass die Nöte dieser jungen Menschen noch nicht genügend im öffentlichen Blickfeld sind. "Zu leicht werden die Probleme als nicht lösbar zur Seite geschoben, den Betroffenen Schuld zugewiesen, aber nicht versucht, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Dabei zeigen Zahlen, wie dramatisch die Entwicklung ist: Obwohl es immer weniger Kinder Deutschland gibt, steigt die Zahl der benachteiligten jungen Menschen an.“


Zuviel Druck, zu wenig Unterstützung
Täglich kommen rund 15 Gäste unter 27 Jahren in die Oldenburger Bahnhofsmission. „Viele sind dem verstärkten Druck im Schulsystem nicht gewachsen. Doch auch, wer beispielsweise den Hauptschulabschluss schafft, findet meist keinen Job. Und wer einen Job findet, kann oft von seinem mageren Verdienst nicht leben“, beschreibt Vogel-Grunwald die offensichtlichen Probleme. Dazu kommt, dass eine steigende Zahl Jugendlicher zu Alkohol und harten Drogen greift. Doch was die 44-Jährige besonders erschüttert, ist die Hoffnungslosigkeit der jungen Gäste, die schon früh im Leben aufgeben, weil sie für sich keine Perspektive mehr sehen, keinen Sinn im Leben.

Pater Otto hat beobachtet, dass der Grundstein für Perspektivlosigkeit und Lethargie häufig im Elternhaus gelegt wird. "Kinder erfahren keine Wertschätzung und Anerkennung für ihre Leistungen. Sie lernen das Gefühl nicht kennen, dass Menschen ohne Vorbedingungen zu ihnen stehen“, sagt der 61-Jährige. Besonders in gescheiterten Ehen erlebten sie oft nicht, was Zuverlässigkeit und Vertrauen bedeuteten. Deshalb mangle es ihnen später an Selbstwertgefühl, Willenskraft, Leistungswillen und Verlässlichkeit. Tiefgreifende Probleme, für die das staatliche Sozialsystem nicht die richtigen Antworten bereit halte, kritisiert Pater Otto. Dieses verwalte die Armut, statt sie wirksam zu bekämpfen, setze auf Bürokratie und Formulare statt auf Zuwendung und Gespräch.

Viel Zeit nötig
Die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission investieren viel Zeit und Geduld, um Janina erst einmal ein Stück Sicherheit und Selbstbewusstsein zu geben. Sie unterstützen die junge Frau beim Kontakt mit den Behörden und auf der Suche nach den richtigen Hilfsangeboten. Dafür können sie in Oldenburg auf ein Netzwerk von sozialen Einrichtungen zurückgreifen. Deren „Praxisrunde U 25“ ist besetzt mit Mitarbeitenden von Bahnhofsmission, Diakonie, paritätischem Wohlfahrtsverband, Streetworkern der Stadt und Mitarbeitenden des Jobcen-ters. Gemeinsam versuchen die Profis, in jedem individuellen Fall die bestmögliche Hilfe zu finden. Für Janina ist geplant, sie erst einmal in einer Wohnung des diakonischen Werkes unterzubringen, dann soll eine Therapie folgen und wenn alles gut läuft, irgendwann der Weg zurück ins Arbeitsleben. Ein weiter Weg.


„Junge Menschen müssen zuerst einmal bedingungslose Annahme erfahren", beschreibt Pater Otto den Ansatz der Salesianer Don Boscos, die sich für Kinder und Jugendliche einsetzen und deren Provizialvikar in München er ist. "Danach können Sie anfangen, über ihr Leben und ihre Verhaltensweisen konstruktiv nachzudenken und etwas zu ändern. Das braucht Zeit und wird nur gelingen, wenn die Gesellschaft aufhört, Menschen fast ausschließlich nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu beurteilen.“ [AK]

* Name geändert


 
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