29. MAI 2013

Dort sein, wo die Menschen sind

LONDON/ENGLAND. Um 14 Uhr habe ich einen Termin mit Pastor Jonathan Barker. Barker ist Seelsorger in St. Pancras Station, Londons prachtvollem viktorianischen Bahnhof. Dieser wird auch das Tor nach Mehr... Europa genannt, denn von hier fährt der Eurostar-Zug durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal nach Frankreich. Im Bahnhof herrscht hektisches Treiben, 250.000 Menschen sind dort täglich unterwegs. Ich treffe Jonathan auf dem Weg zu seinem Büro. Doch mein Interview zu seiner Arbeit muss warten, Jonathan ist auf dem Sprung.

Nach einem schnellen Spurt durch den riesigen Bahnhof und über eine stark befahrene Straße sitzen wir kurze Zeit später im Rathaus, bei einem Treffen der Mitarbeitenden der lokalen Bürgermeisterin. Es geht um einen Event in St. Pancras anlässlich einer Holocaust-Gedenkfeier. Jonathans Ideen und Kontakte spielen nicht nur hier eine wichtige Rolle – der Pastor ist rund um den Bahnhof ein gefragter Mann.

Wieder zurück im Bahnhof beantwortet Jonathan die Frage nach der Anzahl seiner Mitarbeitenden mit einem Kopfschütteln. „Keine.“ Er allein ist zur Stelle, um Reisenden sowie den Mitarbeitenden der Bahn und der zahlreichen Geschäfte im Bahnhof in Stress- und Notsituationen zur Seite zu stehen. Jonathan wird gerufen, wenn Menschen Suizid begangen haben, Streitsituationen geschlichtet werden müssen oder minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung aufgegriffen werden.

Doch häufig geht der 58-Jährige einfach nur mit offenen Augen durch den Bahnhof. „Ich sehe oft auf den ersten Blick, wenn Menschen übermäßig gestresst sind“, erklärt Jonathan, der geschult ist in psychologischer Betreuung, Aggressionsbewältigung und Ähnlichem. Eine seiner Aufgaben besteht darin, regelmäßig die Bahnmitarbeiter im Umgang mit Stresssituationen am Bahnhof fortzubilden.

„Eine der besten Aufgaben in der Kirche“

Jonathans Job ist etwas Besonderes, denn es gibt ihn nur einmal in England. Jonathans Arbeitgeber ist die anglikanische Londoner Diözese. Sein Schreibtisch steht in den Räumen der Geschäftsführung von Network Rail, dem privatwirtschaftlichen Betreiber des Bahnhofs. Vor fünf Jahren hat er hier nach seinen Worten „eine der besten Aufgaben in der Kirche“ übernommen: „Meine Arbeit bietet mir endlose Möglichkeiten. Dies ist ein Ort, an dem die Kirche mit Menschen mitten im Leben in Kontakt kommen kann.“

In England gibt es keine Einrichtung, die der deutschen Bahnhofsmission entspricht. Die gleichnamige „Railway Mission“ kümmert sich ausschließlich um die spirituellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden der englischen Bahn. Reisehilfen hingegen übernehmen die unterschiedlichen Bahnunternehmen. Menschen in existenziellen Notlagen finden Hilfe in Einrichtungen außerhalb des Bahnhofs.

Weil der Bahnhof St. Pancras ein privatwirtschaftliches Unternehmen ist, ein Ort an dem alles reibungslos unter großen Sicherheitsvorkehrungen vonstatten geht, an dem alles blitzsauber und wirtschaftlich effizient sein muss, geht Jonathan seiner Aufgabe sehr diskret nach. Das ist auch der Grund, warum er bisher keine ehrenamtlichen Mitarbeitenden beschäftigen kann und warum seine hilfebedürftigen Gäste ihn nicht in seinem Büro, das sich im Sicherheitstrakt der Network-Rail-Geschäftsräume befindet, aufsuchen können. Dafür kann er jedoch auf die Unterstützung eines umfangreichen Netzwerks zurückgreifen. Für die Gespräche mit seinen Gästen stellen ihm die zahlreichen Cafés einen Tisch und heiße Getränke zur Verfügung. Und wenn Hilfesuchende ein Rückfahrticket benötigen, übernimmt der Bahnhofsbetreiber die Kosten.

Überhaupt ist für Jonathans Tätigkeit die Zusammenarbeit mit den vielen Beteiligten im Bahnhof eine wichtige Voraussetzung. Auf unserem Weg durch den Bahnhof strecken sich ihm viele Hände zur Begrüßung entgegen, er kennt jeden – vom Chef der Reinigungskräfte über die Polizisten vor Ort bis zum Architekten des neu umgebauten Bahnhofs. Sein Netzwerk umfasst auch die sozialen Angebote rund um den Bahnhof, an die er bei Bedarf Hilfesuchende weitervermittelt. Dass er erfahrener Marathonläufer ist, kommt ihm bei seinem anstrengenden Job in dem weitläufigen Bahnhof zugute. Trotzdem stoße er manchmal an seine Grenzen, sagt Jonathan. Wie im vergangenen Frühjahr, als es eine regelrechte Welle von Suiziden im Bahnhof gab.

„Es ist wichtig, dass meine Kirche ihre traditionellen Wege verlässt, um an Orten wie diesem präsent zu sein. Wir müssen uns als Partner der Wirtschaft etablieren, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, denn viele verbringen einen Großteil ihrer Zeit auf der Arbeit und auf dem Weg zur Arbeit“, ist sich Jonathan sicher. [Anne Kunzmann]


 
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