28. JUNI 2020

Gedanken zum Sonntag, 28. Juni 2020

„Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ (Lk 19,10)


Retten, was verloren ist. Das war lange Zeit unsere Mission am Bahnhof.
Retten - das passt zum Geist der Inneren Mission, in deren geistigem Kontext die Bahnhofsmission vor 125 Jahren erfunden wurde. Schon der Gründungsvater der Inneren Mission, Johann Hinrich Wichern, wollte Menschen retten. Das Rauhe Haus in Hamburg, das er 1833 einrichtete, diente der „Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“. Wichern wollte ihr Leben verbessern und war überzeugt, dass er durch die Linderung ihrer existentiellen Not, Schutz und Sicherheit, Fürsorge, Bildung und Erziehung auch ihre Seelen retten könne.


Der Impuls, Menschen zu retten, ist auch in die DNA der Bahnhofsmissionen eingeschrieben. Jüngst konnte man es wieder erleben: Wo viele andere Einrichtungen aufgrund der gesetzlichen und behördlichen Einschränkungen zum Schutz vor Ansteckungen mit Covid-19 ihren Betrieb einstellten, hielten die meisten Bahnhofsmissionen ihre Türen offen. Sie fühlten sich ihren Gästen verpflichtet und wollten sie nicht allein lassen. Deshalb griffen Sie auf ihr wichtigstes Kapital zurück: Die Bereitschaft und Kraft ihrer Mitarbeitenden, auch in unübersichtlichen oder fast aussichtslos erscheinenden Situationen mutig und phantasievoll nach Lösungen zu suchen. An vielen Orten ist das gelungen. Es ist beeindruckend, dass gerade Bahnhofsmissionen, die meist nicht mit üppigen Ressourcen ausgestattet sind, mancherorts die einzigen Hilfeeinrichtungen waren, die zumindest einen Notbetrieb aufrechterhielten. Manche übernahmen vorübergehend sogar zusätzliche Aufgaben.


Nach dem Wochenspruch zum 3. Sonntag nach Trinitatis ist der Menschensohn gekommen um zu retten. Aber nicht nur das. Er ist gekommen, um zu suchen und zu retten. Was mag das bedeuten?


Unsere Bilder vom Retten drehen sich oft um akute Kriseneinsätze: Wir denken an Feuerwehr und Rettungswagen. Suchen aber ist viel langfristiger angelegt.


So wie es die Geschichte vom Zöllner Zachäus, aus dem der Bibelvers stammt, erzählt: Jesus geht durch die Stadt Jericho und schaut sich um. Offensichtlich provoziert sein Kommen einen Menschenauflauf. Bestimmt gibt es Zurufe und Gedrängel. Die Menschenmenge versperrt ihm den Weg. Aber Jesus nimmt trotzdem den Mann auf einem Baum im Hintergrund wahr. Es ist Zachäus. Er ist ziemlich klein. Deshalb ist er der auf einen Baum geklettert, um Jesus sehen zu können. Jesus hat ihn nicht übersehen. Er spricht mit ihm.


Suchen hat viel mit Wahrnehmung zu tun. Die Wahrnehmung geht dem Retten voraus: Hinschauen und sehen, was und wer sonst leicht übersehen wird. Hören, was im Lärm unterzugehen droht. Stehenbleiben und ansprechen. Kontakt aufnehmen statt achtlos weiterzugehen.


Bahnhofsmissionen verstehen sich als offene Anlaufstellen für alle, die Hilfe benötigen. Ihre Hilfe kann manchmal wirklich eine Rettung sein. Aber Bahnhofsmissionen retten nicht nur. Sie suchen auch, und zwar in dem Sinne, dass sie sich offen, mit unverstellter Aufmerksamkeit und vorurteilslos ihren Gästen zuwenden. Damit sie sich gesehen fühlen. Das ist die eigentliche Erste Hilfe.


Dr. Gisela Sauter-Ackermann

 

Dr. Gisela Sauter-Ackermann

Katholische Bundesgeschäftsführung