01. SEPTEMBER 2022

Interview Bahnhofsmission Essen: „Unsere Stärke ist unsere Anpassungsfähigkeit“

Die Bahnhofsmission bietet ihre Hilfe allen Menschen anonym und kostenlos an – auf 105 Bahnhöfen in ganz Deutschland. Bundeskanzler Scholz besuchte am Donnerstag die Essener Vertretung und sprach mit Mitarbeitern und Gästen. Ein Interview mit Martin Lauscher, dem Leiter der dortigen Mission, über die Arbeit vor Ort und die Bedeutung des Ehrenamts. Mehr...

Herr Lauscher, der Bundeskanzler war heute bei Ihnen zu Gast in der Bahnhofsmission. Was war Ihnen wichtig, ihm mitzuteilen?

 

Martin Lauscher: Im Gespräch mit Bundeskanzler Scholz habe ich vor allem auf die Wichtigkeit des ehrenamtlichen Engagements in der Bahnhofsmission hingewiesen. Die Bahnhofsmission in Essen wird von knapp 30 Ehrenamtlichen betrieben. Dabei geht es jedoch nicht nur um die reine Zahl der Engagierten, sondern auch um die Diversität unserer Ehrenamtlichen, die die Pluralität unserer Gesellschaft in die Arbeit vor Ort tragen. Ohne diese wertvolle Unterstützung wäre unsere Arbeit nicht leistbar.

Ich habe aber auch meine Sorge vor Einbußen im Ehrenamt zum Ausdruck gebracht. Einige Ehrenamtliche sind bereits jetzt durch die Inflation gezwungen, sich Nebenjobs zu suchen und ihr Engagement zu beenden.

 

Martin Lauscher ist Leiter der Bahnhofsmission in Essen – er begrüßte am Donnerstag Bundeskanzler Olaf Scholz zu einem Besuch. Foto: Bundesregierung/Bergmann

 

Was genau machen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmission in erster Linie – und welche Menschen nehmen die Hilfe der Bahnhofsmission in Anspruch?

 

Lauscher: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Essener Bahnhofsmission sind für alle Hilfesuchenden im Essener Hauptbahnhof ansprechbar. Unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder sexueller Orientierung – vor allem aber unabhängig vom Problem! Wir leisten Hilfen im Reiseverkehr für mobilitätseingeschränkte Reisende, betreiben einen Aufenthalt für Menschen in besonderen Problemlagen, in dem sie Beratung erhalten und sich aufwärmen können, und sind im Bahnhof unterwegs, um dort zu helfen, wo es nötig ist.

 

Die Menschen, denen wir helfen, sind dabei so verschieden wie unsere Gesellschaft: Hier kann man in einer Minute noch einen jungen Wohnungslosen beraten und im nächsten Moment einer älteren Dame helfen, in ihren Zug zu gelangen.

 

Hat sich da in den vergangenen Jahren etwas verändert? Kommen beispielsweise noch viele Geflüchtete aus der Ukraine?

 

Lauscher: Die Bahnhofsmission war schon immer im Wandel, unsere Stärke ist die Anpassungsfähigkeit. Dennoch hat sich die Arbeit in den letzten Jahren deutlich verändert. Besonders durch die pandemiebedingten Schließungen von anderen Anlaufstellen und auch vielen Behörden haben wir einen vermehrten Zulauf bekommen. Aufgrund von Corona-Zugangsbeschränkungen haben wir gleichzeitig den Kontakt zu Stammklientinnen und -klienten verloren, und vereinzelt mussten wir Menschen abweisen, da unsere Räume nicht ausreichend groß sind, um Abstandsregeln einhalten zu können. Hier hat sich die Lage seit einigen Monaten aber wieder deutlich entspannt.

 

Wie die meisten Bahnhofsmissionen hatten wir auch viel Kontakt zu Geflüchteten aus der Ukraine, dies hat jedoch in den letzten Monaten stark nachgelassen. Derzeit bereitet uns ein Winter Sorgen, in dem Menschen möglicherweise vermehrt beheizte öffentliche Orte wie den Essener Hauptbahnhof aufsuchen.

 

Die Arbeit der Bahnhofsmission wird zu einem erheblichen Teil von Ehrenamtlichen getragen. Wie sieht das Engagement aus?

 

Lauscher: In der Essener Bahnhofsmission arbeiten neben sechs Hauptamtlichen – zwei volle Stellen, vier studentische Aushilfskräfte – rund 30 Ehrenamtliche aus allen Teilen der Gesellschaft. Neben Studierenden haben wir zahlreiche Erwerbstätige, die nach einem Arbeitstag noch Zeit schenken möchten, aber auch Menschen, die ihre Erwerbstätigkeit bereits beendet haben.

Unsere Ehrenamtlichen engagieren sich in der Regel ungefähr sechs Stunden die Woche, was es uns ermöglicht, die Bahnhofsmission von Montag bis Freitag von 9 bis 22 Uhr und samstags von 11 bis 17 Uhr zu öffnen. Ohne dieses Engagement wären die Öffnungszeiten nicht möglich. Alle unsere Ehrenamtlichen sind für alle beschriebenen Tätigkeiten geschult und jede und jeder macht alles.

 

Sehen Sie neue Herausforderungen auf Ihre Arbeit zukommen?

 

Lauscher: Natürlich ergeben sich durch die aktuellen Krisen und ihre Folgen neue Herausforderungen für alle sozialen Einrichtungen und für uns am Bahnhof besonders. Die steigenden Preise werden zu Wohlstandsverlusten bis weit in den Mittelstand hinein führen. Bereits jetzt nehmen wir eine erhöhte Nachfrage nach Lebensmitteln wahr. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass im Winter vermehrt Menschen öffentliche Gebäude wie den Bahnhof als warmen Aufenthaltsort nutzen werden, da sie es sich nicht mehr leisten können, zu Hause zu heizen. Auch wenn wir als Einrichtung der Gefährdetenhilfe diese Menschen nicht zu unserer klassischen Zielgruppe zählen, werden wir uns ihrer selbstverständlich annehmen.

 

Bundeskanzler Scholz zu Besuch bei der Bahnhofsmission Essen.

Foto: Bundesregierung/Bergmann

 

Darüber hinaus beobachten wir ein vermehrtes Auftreten von psychischen Auffälligkeiten, was durch das ständige Verharren in einem gesellschaftlichen Krisenmodus noch verstärkt wird. Die konkrete Arbeit mit und für die Menschen wird dadurch intensiver und belastender für die Ehrenamtlichen. Als Einrichtungsleitung versuche ich, dem durch Angebote zur Fortbildung entgegenzuwirken, um unseren Ehrenamtlichen auch in der Zukunft Handlungssicherheit zu geben.

 

In Ihrer Geschichte hat die Bahnhofsmission sich stets an neue Herausforderungen angepasst. Wir haben zwei Weltkriege, den Nationalsozialismus und eine Weltwirtschaftskrise überstanden. Ich bin daher trotz allem zuversichtlich, dass wir auch zukünftige Herausforderungen meistern werden!

 

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