10. DEZEMBER 2010

Beim Kaffeetrinken Brücken in die Realität bauen

Die schöne Zeit des Jahres ist für psychisch Kranke oft besonders schlimm

DÜSSELDORF/CHEMNITZ/TÜBINGEN. Die ältere Dame ist gut gekleidet, schickes Hütchen inklusive. Während sie einen Kaffee trinkt, um sich aufzuwärmen, hat sie ihren Rollkoffer neben dem Tisch abgestellt. Eine typische Reisende, die in der Bahnhofsmission Düsseldorf eine kurze Verschnaufpause eingelegt hat, – so möchte sie wahrgenommen werden. Dass der Eindruck trügt, Mehr... wissen die Mitarbeitenden der Einrichtung nur zu gut. Die Tasse Kaffee, die die 70-Jährige zwei- bis dreimal die Woche hier bekommt, ist eine ihrer letzten Verbindungsbrücken in das so genannte normale Leben.

 

Was die ältere Frau erzählt und warum sie in diese schwierige Lebenssituation geraten ist, das ist mithilfe gängiger Vorstellungsmuster nicht einfach zu verstehen. Überhaupt nur nachvollziehbar wird es, wenn man weiß, dass sie unter schweren psychischen Problemen leidet. „Wir hören den Besuchern zu, ohne sie zu bewerten. Egal wie scheinbar unverständlich ihre Geschichten klingen“, sagt Barbara Kempnich. „Hier, wo jeder selbst bestimmen kann, wie weit er sich öffnet, sprechen manche sogar überhaupt zum ersten Mal über sich“, erklärt die 52-Jährige, die von evangelischer Seite die ökumenische Bahnhofsmission Düsseldorf leitet.

 

Bei den Mitarbeitenden finden die Besucher nicht nur ein offenes Ohr. Auch endlose Geduld, wenn es darum geht, Vertrauen aufzubauen und, wenn gewünscht, die richtige Hilfe zu finden, gehört dazu. Die alte Dame lebt immer noch auf der Straße. Sie hat mehrere Wohnungen durch Zwangsräumung verloren, verschiedenen Ämtern, der Frauenberatungsstelle und der Notunterkunft ist es nicht gelungen, ihr eine feste Bleibe zu vermitteln. Die psychischen Probleme haben das Leben der Frau so fest im Griff, dass es ihr unmöglich ist, Vertrauen zu fassen und sich mit einer Sachbearbeiterin, einer Mitbewohnerin oder auch nur mit der Wohnungseinrichtung zu arrangieren.

 

Die einzigen, zu denen sie Vertrauen gefasst hat und die sie noch nicht aufgegeben haben, sind die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission. „Zu uns können die Menschen 100 Mal kommen, auch beim 101. Mal sind wir für sie da, ganz offen“, sagt Kempnich, „das können andere Anlaufstellen oft nicht so leisten.“ Wenn es dabei gelingt, der Frau noch weitere Brücken in die Realität zu bauen und ihr eine Unterkunft zu vermitteln, dann ist das umso besser. Besonders, weil die alte Dame an schwerer Diabetes leidet und täglich ihre Beine eincremen und hoch lagern muss, – unter diesen Bedingungen ein extrem schwieriges Unterfangen.

 

Vertrauen ist wichtig
„Vertrauen aufbauen, einen Draht zu den Besuchern bekommen, das ist ganz wichtig“, betont auch Schwester Claudia-Maria Schwarz, die seit neun Jahren die katholische Leitung der ökumenischen Bahnhofsmission Chemnitz innehat. „Das gelingt uns nur, wenn wir die Menschen ernst nehmen, sie verstehen und ihnen keine Vorwürfe machen.“ Gerade der Umgang mit psychisch Kranken ist schwierig, weshalb die Mitarbeitenden, die zumeist eh-renamtlich tätig sind, regelmäßig für ihre Aufgabe geschult werden. „Manchmal, wenn die Hemmschwelle groß ist, begleiten wir die Besucher auch zu einer Beratungsstelle“, sagt Schwester Claudia-Maria. „Und dann ist es oft sogar so, dass das Vertrauen, das uns entge-gengebracht wird, überspringt. Wodurch dann die Beratung erst möglich wird.“

 

Vergangenes Jahr hatte die Bahnhofsmission Chemnitz fast 27.000 Besucherkontakte, beinahe 10.000 davon drehten sich in irgendeiner Form um psychische Erkrankungen. Fast immer handelt es sich dabei um Menschen, die eine Vielzahl von Problemen mit sich herum-tragen. Alkohol und Drogen, Arbeitslosigkeit, kaputte Beziehungen, Verlust der Wohnung oder Schulden führen zu oder folgen auf Depressionen, Ängste, Zwänge oder Psychosen, gleichzeitig leidet die körperliche Gesundheit – ein Kreislauf entsteht, irgendwann ist nicht mehr klar, was Ursache und Auswirkung ist.

 

„Manche Menschen werden aggressiv, andere lethargisch“, sagt Schwester Claudia-Maria, „alle haben viele Fehlschläge erlebt und den Mut verloren.“ Ein Großteil der Betroffenen in Chemnitz seien Männer zwischen 40 bis 60 Jahren, die erfahren mussten, dass sie mit Anfang 40 schon zu alt seien, um beruflich noch einmal von vorne anzufangen.

 

Studenten sind einsam in der fremden Stadt
Doch niemand ist gefeit gegen psychische Probleme und ihre Folgen. Dass in Tübingen auch oft junge Menschen bei der Bahnhofsmission Hilfe suchen, liegt natürlich daran, dass Tübingen eine Studentenstadt ist, aber ein anderer Grund ist, dass es in der dortigen Bahn-hofsmission ein ungewöhnliches Angebot gibt. Seit einem Jahr lädt das Nachtcafé zum Auf-wärmen und Reden ein. Das Besondere ist, dass hier geschulte Ansprechpartner sitzen, die viel Zeit mitbringen, weil sie zwischendurch keine anderen Aufgaben wie Reisebegleitungen wahrnehmen. Eine Stunde kann ein Gespräch mindestens dauern. Die Zuhörer sind Sozial-pädagogen, Theologen oder Studenten, die ehrenamtlich meist zweimal im Monat arbeiten.

 

Viele der Cafébesucher sind zwischen 25 und 40 Jahren alt. Studenten, die einsam sind, allein in einer fremden Stadt nicht zurechtkommen. Manche bringt das nächtliche Café dazu, endlich einmal ernsthaft über ihr Leben nachzudenken, andere sind verzweifelt, sogar suizidgefährdet. Es kommen junge Frauen, die in Not sind, nicht wissen wo sie hin sollen, andere sind psychisch krank und erzählen wirre Geschichten. Oft spielen auch Alkohol und Drogen eine Rolle.

 

„Erst, wenn man sich Zeit nimmt zum Reden, erfährt man, was hinter den Problemen steckt. Oft stehen nicht die finanziellen, sondern die persönlichen Schwierigkeiten im Vordergrund“, sagt Sylvia Takacs, eine der beiden Leitungskräfte der Bahnhofsmission Tübingen und verantwortlich für das Nachtcafé. „Wir können den Menschen das Gefühl geben, wahrgenom-men zu werden – eine Kurzzeitseelsorge im Alltag. Wir wollen keine Therapie ersetzen, vermitteln aber bei Bedarf weiter.“

Das Café ist fünfmal in der Woche von 17.30 bis 22 Uhr geöffnet und es vergeht kaum eine Nacht ohne Besucher. Aber das war schon vor der Eröffnung klar, denn die Unterstützung für die Gründung des Cafés kam in der Stadt von allen Seiten: Es wurde dringend eine Anlaufstelle für Menschen mit psychischen Belastungen gebraucht, die dann geöffnet hat, wenn alle anderen Einrichtungen bereits geschlossen haben, denn psychische Probleme halten sich nicht an Öffnungszeiten.

 

Weihnachtsgeschenk ist etwas Besonderes
Schlimm ist für die Betroffenen, dass die offiziell schönste Zeit des Jahres jetzt bevorsteht. So manch einer hat das ganze Jahr über mehr oder weniger Haltung bewahrt. „Aber Weihnachten brechen selbst gestandene Männer hier in Tränen aus“, erzählt Schwester Claudia-Maria. „In den Dezemberwochen sind wir in der Bahnhofsmission ein Familienersatz, denn dann kommen bei vielen die Erinnerungen an die Kindheit hoch, als die eigene Familie noch existierte.“

 

Dass um Weihnachten herum mehr Besucher kommen, berichtet auch Barbara Kempnich. Trotzdem sei es dann ruhiger und stiller, weil die Menschen trauriger und deprimierter seien. Deshalb gibt es in den Bahnhofsmissionen besonders am Heiligabend längere Öffnungszeiten und Veranstaltungen wie Andachten und Konzerte. In Düsseldorf und Chemnitz bekommt auch jeder Besucher ein Geschenk – Päckchen, die von Bürgern gespendet werden. „Das ist dann schon etwas Besonderes“, hat Schwester Claudia-Maria beobachtet. „Das Weihnachtsgeschenk wird behutsam und andächtig ausgepackt, oft erst zu Hause ganz in Ruhe.“


 
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